Blick zurück

Quelle: Schwulenarchiv sas, 'hey' 9/1978, S. 4. Fotograf: Jürg Wehrli, Zürich.

Sie wissen es ja bereits, geschätzte*r Leser*in – ich habe eine Schwäche für den Blick zurück. Besonders interessiert mich die Geschichte unserer Community. Darum möchte ich Ihnen eine kleine Episode nicht vorenthalten, die mir eben in den Sinn gekommen ist. Jetzt, wo ich diese Kolumne schreibe, herrschen draussen gerade hochsommerliche Temperaturen und es ist wieder Pride-Saison. Da musste ich unweigerlich an die allererste Pride in Zürich denken. Nicht wegen der Temperaturen, denn am 24. Juni 1978 hat es geregnet. Aber eben wegen der Pride: An jenem Samstag fand auf der Zürcher Pestalozziwiese der erste CSD der Schweiz statt. Aktivist*innen sammelten Unterschriften für die Abschaffung des Homo-Registers, in dem schwule Männer illegalerweise von der Polizei registriert wurden. Dass die gemeinsame Aktion der Homosexuellen Arbeitsgruppe Zürich (HAZ) mit der Schweizerischen Organisation der Homophilen (SOH) und der Homosexuellen Frauengruppe (HFG) stattfand, ist nicht selbstverständlich. Die studentisch geprägte HAZ fand die SOH nämlich zu spiessig und zu bürgerlich. Die Frauengruppe wiederum hatte sich bereits zuvor von der HAZ abgespalten und kritisierten deren männlichen Strukturen. Doch das gemeinsame Ziel brachte an jenem Tag alle zusammen. Es wurde nicht darauf geschaut, was trennt, sondern darauf, was verbindet. Zu Beginn blieben die Aktivist*innen noch hinter dem schützenden Stand. Doch schliesslich wagte sich als erste eine Lesbe aus der HFG hervor. Sie trat an die Passant*innen heran und bat um Unterschriften. Solidarisch hat sie den ersten Schritt gewagt, um ihre schwulen Schwestern zu unterstützen. Immer mehr Aktivist*innen fassten Mut und innert weniger Stunden waren 5’000 Unterschriften gesammelt. Die Petition wurde eingereicht und es verging kein Jahr und das Homo-Register war abgeschafft.

«Nun gut», mögen sie denken, «warum erzählt mir Mademoiselle Gamie diese Anekdote?» Weil wir aus der Vergangenheit lernen können. Obwohl die Anekdote hier ein Sieg war und unsere Community in den letzten Jahrzehnten einiges erreicht hat, ist die Geschichte keine reine Erfolgsstory. Die Geschichte ist eher wie eine Dragqueen auf ihrem Heimweg um drei Uhr morgens: Sie verläuft selten gerade. Just in diesem Moment steht unsere Community wieder unter Druck – auch in Zürich: Die rechtspopulistische Gesundheitsdirektorin möchte hier die Rechte von trans Jugendlichen beschneiden und die Geschlechtsangleichung verunmöglichen. Ihre Argumente entbehren jeglichem wissenschaftlichen Fundament. Darum ist es eben an der Zeit, wieder solidarisch zusammenzustehen – genau wie 1978. Selbst wenn einen das aktuelle Problem vielleicht nicht direkt betrifft, gilt es, sich heute für trans Jugendliche einzusetzen, wie sich damals die mutige Lesbe für die Schwulen eingesetzt hat. Denn wir sind immer dann stark, wenn wir uns nicht spalten lassen und zusammen gegen Ungerechtigkeit kämpfen. Über die Identitätsgrenzen hinweg. Wir kommen dann weiter, wenn wir uns verschwestern.

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Tobias Urech