Natürlich künstlich!

 
 

Als weltläufige Dame – und Sie, geschätzte Leserinnen bis Leser, wissen ja, dass ich so eine bin – gehört es sich natürlich, sich beim morgendlichen Kaffee die internationale Presse zu Gemüte zu führen. So bin ich letztens in der New York Times über einen Artikel gestolpert, der mich ins Nachdenken brachte. Da ging es also um Homosexualität im Tierreich. (Auch die Mannschaft berichtete darüber.) In einer neuen Studie untersuchten drei Forscher*innen alle aktuell lebenden 6'649 Säugetierarten und kamen zum Schluss, dass homosexuelles Verhalten ein evolutionärer Vorteil sei: Es helfe, Konflikte zu in sozialen Gruppen zu vermeiden. Der Artikel liess mich etwas belustigt zurück. Das Forschungsteam ist wohl noch nie zwei zankenden Dragqueens über den Weg gelaufen… Fairerweise muss man aber sagen, dass die Autor*innen davor warnen, die Ergebnisse eins zu eins auf den Menschen zu übertragen. Trotzdem, in meinem Social Media Feed tauchen ab und an wieder Vergleiche mit dem Tierreich auf. Die Botschaft: «Homosexualität ist natürlich!» oder «Homosexualität gibt es in 1'500 Tierarten. Homophobie nur in einer.» Natürlich ist mir bewusst, dass dieses Argument vor allem an die Adresse Ewiggestriger geht und sich gegen deren verschwurbelte Meinung zu gleichgeschlechtlicher Liebe richtet. Aber so ganz wohl ist mir bei dieser Instrumentalisierung der Natur irgendwie nicht. Ist denn etwas nur okay, wenn’s natürlich ist? Müssen wir uns an Höhlenmenschen und Buschviechern orientieren, wenn’s um unsere heutige Lebensweise geht? Wo käme man da hin… Fahrstühle, Glühbirnen und Herzschrittmacher sind ja auch nicht natürlich. Und trotzdem käme niemand auf die Idee, Weisswangenmakaken, Kammzehenspringmäuse oder anderes Getier herbeizuziehen, um die Verwendung dieser Dinge zu legitimieren. Ganz abgesehen davon könnte ich einpacken, wenn es gälte, nur Dinge zu tun, die natürlich sind. Mich gibt’s auch nur dank zahlreicher künstlicher Hilfsmittel wie Perücke, Make-up und Schaumstoffpolster. Eine Dragqueen ohne Künstlichkeit ist wie ein Bonobo-Affe ohne Geschlechtstrieb. Vielleicht sollten wir darum einfach mit einem stolzen Nachdruck darauf beharren, dass unsere queere Liebe imfall auch okay ist, wenn wir nicht «born this way» sind. Dass es eben eine Errungenschaft unserer Zeit ist, so sein zu dürfen, wie wir sind, – ganz ohne dadurch einen evolutionären Vorteil zu erlangen. Basta! Viel wichtiger ist sowieso, dass ich natürlich der künstliche Paradiesvogel bleiben darf, der ich bin.

Tobias Urech